DLR-Studie sieht 52 000 gewerbliche Cargobikes in Deutschland

Staatssekretärin Dorothee Bär nimmt Studie zum Einsatz von Fahrrädern im Wirtschaftsverkehr entgegenIm Bundesverkehrsministerium wurde am 12. Mai eine umfangreiche Studie zu Fahrrädern im Wirtschaftsverkehr vorgestellt. Es geht um eine Bestandsaufnahme, Potentiale und Handlungsempfehlungen.

Bereits 2013 war die Studie beim Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Auftrag gegeben worden. Der 124seitige Schlussbericht ist jetzt im Bundesverkehrsministerium (BMVI) an die parlamentarische Staatssekretärin Dorothee Bär (CSU) übergeben worden. Beherzt stieg die Staatssekretärin (gleichzeitig Koordinatorin der Bundesregierung für Güterverkehr und Logistik) auf eines der bereit stehenden Cargobikes.

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Das offizielle Pressestatement der Staatssekretärin lautet:

Das Potenzial von Lastenrädern auf der letzten Meile der Transportkette wird von vielen Unternehmen noch unterschätzt. Lastenräder können vor allem in Städten und Ballungsräumen dazu beitragen, einen Teil des Wirtschaftsverkehrs umweltschonend und effizient abzuwickeln. Mit den heutigen Lastenrädern können nicht nur Lieferverkehre ausgeführt, sondern auch Pakete und andere Güter transportiert werden. Auch für Dienstleistungsbereiche wie Pflege- oder Handwerksleistungen ist das Fahrrad als Transportmittel geeignet. Das Bundesverkehrsministerium wird deshalb auf Basis der DLR-Studie eine Hilfestellung mit Best-Practice-Beispielen zusammenstellen und interessierten Unternehmen und Kommunen zur Verfügung stellen.

Sehr schön! Damit holt das BMVI beim Thema Cargobikes im Wirtschaftsverkehr wieder ein wenig auf gegenüber dem Bundesumweltministerium. Dieses hatte in den letzten Jahren nicht nur die Projekte Ich ersetze ein Auto und Lasten auf die Räder! gefördert. Im Februar schwang sich Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth auf ein Cargobike, um den 40 Million Eure schweren Bundeswettbewerb „Klimaschutz im Radverkehr“ vorzustellen. Einer der vier Förderschwerpunkte: „fahrradbasierte Transportdienstleistungen und Logistik“.

Doch zurück ins BMVI. Der für Güterverkehr und Logistik im BMVI zuständige Referatsleiter Peter Lüttjohan moderierte die Vorstellung und Diskussion der DLR-Studie. Anwesend waren etwa 25 geladene Vertreterinnen von Verbänden, Kommunen und Unternehmen. Leider fehlten Fachjournalisten und die großen Paketzusteller. Studienautor Johannes Gruber (DLR) stellte zusammen mit den Co-Autorinnen Christian Spath (Spath + Nagel), Susanne Wrigthon und Karl Reiter (Forschungsgesellschaft Mobitlität – FGM, Graz) die Studie vor. Sie besteht aus:

  • Bestandsaufnahme
  • Potentialabschätzungen
  • Rahmenbedingungen und Faktoren zur Potentialausschöpfung
  • Rechtliche und Infrastrukturelle Voraussetzungen
  • Handlungsempfehlungen

Grundlage der Bestandsaufnahme sind eine „Sekundärrecherche von vorhandenen Praxisbeispielen gewerblicher Fahrradnutzung sowie Experteninterviews“. Zur Systematisierung unterscheidet die Studie gewerbliche Fahrradnutzung in sechs Marksegmenten:

  • Postdienstleistung
  • Kurierdienstleistung
  • Paketdienstleistung
  • Auslieferverkehr
  • Werkverkehr
  • Personenwirtschaftsverkehr

Die Bestandsaufnahme kommt zum Ergebnis, dass „sich die Anzahl der gewerblich eingesetzten Fahrräder in Deutschland heute auf ca. 415.000 Fahrräder, davon rund 52.000 Lastenräder hochrechnen“ lässt. 30 000 dieser Cargobikes werden in der Postzustellung eingesetzt.

Die repräsentativen Studie Kraftfahrzeugverkehr in Deutschland 2010 (KID) dient als Grundlage zur  Potentialabschätzung für den gewerblichen Einsatz von Fahrrädern. Die Gesamtzahl von jährlich 41,5 Milliarden Fahrten in der KID wird eingegrenzt auf die Fahrzeugklassen Pkw, leichte Nutzfahrzeuge und Kräder, auf dienstliche/geschäftliche Fahrten sowie Einzel-Fahrten. Das sind 3,9 Milliarden Fahrten pro Jahr. Für diese Fahrten werden drei Szenarien für das Ersetzungspotential durch Fahrräder aufgemacht, die sich alle auf eine maximale Zuladung von 50 Kilogramm beziehen:

  • Das konservative Szenario S1 geht von der Ersetzbarkeit von Einzelfahrten bis 5 Kilometer bei einer Tagesstrecke von bis zu 10 Kilometern aus. Das ergibt ein Ersetzungspotential von 8 Prozent der betrachteten Fahrten (=0,8 Prozent der Fahrleistung).
  • Das mittlere Szenario S2 erweitert das Potential auf Einzelfahrten bis 7 Kilometer und eine Tagesstrecke von 20 Kilometer. Das ergibt ein Ersetzungspotential von 13,3 Prozent der betrachteten Fahrten (=1,3 Prozent der Fahrleistung).
  • Das optimistische Szenario S3 setzt 10 Kilometer bei Einzelfahrten und 20 Kilometer bei der Tagesleistung als Grenze und kommt auf 22,6 Prozent Ersetzungspotential bei den betrachteten Fahrten (=3,8 Prozent der Fahrleistung).

veloCARRIER in EsslingenDiese Berechnungen sind insgesamt sehr vorsichtig und die Studie weist auf eine Reihe von Einschränkungen hin. So basiert die Potentialabschätzung auf der „Annahme, dass keine neuen Logistikstrukturen entstehen“ und schließt wegen mangelnder Datengrundlage Mehrfahrten-Fahrten in der KEP-Branche aus. Zusammen mit der Begrenzung auf 50 Kilogramm und eine maximale Tagesstrecke von 20 Kilometer selbst im optimistischsten Szenario ergeben sich erhebliche Einschränkungen. So fahren professionelle Cargobike-Kuriere in Berlin oft über 80 Kilometer am Tag und neue City-Logistik-Startups wie Velogista und VeloCARRIER transportieren bis zu 200 Kilogramm auf Schwerlast-Cargobikes.

Amazon_PrimeNow_Lastenrad2Passend dazu startete Amazon am Vortag der Studienpräsentation in Berlin seinen neues Angebot von Lieferungen innerhalb einer Stunde (Pressemitteilung). Geliefert wird von einem neuen innerstädtischen Amazon-Lager am Kudamm. Der Supermarktblog berichtet: „20 Prozent der Bestellungen sollen dem Unternehmen zufolge nicht mit dem Auto, sondern mit elektrisch angetriebenen Lastenfahrrädern ausgefahren werden“. Auf Fotos vom Eröffnungstag sind mindestens acht Cargobikes der Firmen GO! Berlin und interKEP zu sehen. UPS in Hamburg hat durch ein neues Logistiksystem sogar fast alle seine Transporter aus der Innenstadt abziehen können und liefert dort jetzt per Cargobike und Sackkarre von dezentralen Mikrodepots. Hier stecken also noch sehr große weitere Potentiale.

Um so wichtiger sind die folgenden Kapitel der DLR-Studie über Rahmenbedingungen, die den Einsatz von Fahrrädern im Wirtschaftsverkehr positiv beeinflussen können. Und natürlich die Handlungsempfehlungen, die an Bund, Länder und Kommunen, sowie Unternehmen und die Fahrradbranche selbst gerichtet werden. Hier liegt eine Art Roadmap zu Cargobikes im Wirtschaftsverkehr vor, die hoffentlich viele aufmerksame Leser findet und zu konkreten politischen Maßnahmen führt.

Von den vielen wichtigen Punkten dieser Roadmap möchte ich zwei herausgreifen.

cargobike.jetzt-Flyer eMobilitätDie kommende Kaufprämie für E-Autos macht folgende Empfehlung der Studie politisch besonders brisant:

Eine Direktförderung als Investitionszuschuss für (elektrische) Lastenräder oder gewerblich genutzte Fahrräder gibt es derzeit auf Bundesebene nicht. Dieses Förderinstrument sollte aber grundsätzlich in Betracht gezogen werden, da die derzeit noch hohen Anschaffungskosten für professionell nutzbare Lastenräder eine Marktzugangsbarriere insbesondere für Klein- und Kleinstunternehmen darstellt.

In der Diskussion wurde diese Empfehlung seitens des BMVI zurückgewiesen. Doch in München und Österreich sind solche Kaufprämien auch für (e)Cargobikes bereits Fakt. Diese Diskussion wird und muss auch auch auf Bundesebene in Deutschland weitergeführt werden! Denn mit der geplanten Kaufprämie nur für E-Autos findet eine fundamentale mobilitätsspolitische Weichenstellung statt, die die Dominanz des Autos gegenüber dem Fahrrad auf Jahrzehnte weiter festzuschreiben droht.

Jahreskonferenz der European Cycle Logistics Federation 2014 in Nijmegen (NL)

Das schließt an den zweiten Punkt aus den Empfehlungen an, den ich hervorheben möchte. Die Cargobike-Branche muss sich professionalisieren und organisieren, um im Bereich Wirtschaftsverkehr in Sachen Produkt- und Servicequailität sowie politischer Lobbyarbeit weiter aufzuholen! Auf Europäischer Ebene bietet die European Cycle Logistics Federation den ersten Ansatz für eine solche Organisierung. Die Empfehlung der DLR-Studie im Wortlaut:

Herstellern von Lastenrädern, Händlern, Beratern, Service-Dienstleistern und anderen nachgelagerten Akteuren dieses Wirtschaftszweigs wird empfohlen, eine stärke Vernetzung anzustreben. Mit hilfe von kontinuierlichem Erfahrungsaustausch, Kooperationen und gemeinsamen Veranstaltungen wird die Sichtbarkeit der Branche kontinuierlich zunehmen. Eine Chance auf eine große Ausschöpfung der angenommenen Verlagerungspotenziale kann es nur geben, wenn sich das Angebot an Lastenrad -Modellen und die Qualität der Komponenten (z.B. Rahmen, Tretlager, Laufräder und Bremsen) weiterhin deutlich verbessern. Darüber hinaus sollten Standards, etwa für Wechselcontainer, eingeführt werden. Verglichen mit jahrzehntelang optimierten Unterstützungsnetzen des Kfz-Verkehrs (Tankstellen, Werkstätten, Tiefgaragen etc.) hat der Fahrrad-Wirtschaftsverkehr noch erheblichen Nachholbedarf. Potenzielle Anwender – insbesondere aus Marktsegmenten jenseits der Güterbeförderung – werden nur dann zu tatsächlichen Anwendern, wenn die Fahrradbranche Lastenräder in einer Qualität anbietet, die den Ansprüchen einer professionellen Nutzung gerecht wird.

Am 24. Juni findet auf Einladung der Stadt Mannheim übrigens erstmals eine Veranstaltung mit Gary Armstrong, dem Director der European Cycle Logistics Federation (ECLF) in Deutschland statt. Eine gute Möglichkeit zur Vernetzung und für erste Schritte beim Aufbau einer deutschen ECLF-Sektion.

Das Bundesverkehrsministerium kündigte zum Abschluss der Studienvorstellung an, einen Praxisleitfaden erstellen zu wollen. Denn man verstehe sich beim Thema Fahrräder im Wirtschaftsverkehr auch als Dienstleister für die Länder. Die Anregung, die Präsentation des Leitfadens mit einer öffentlichkeitswirksamen Veranstaltung zu verbinden soll geprüft werden. Im informellen Teil wurde noch ausgiebig im Innenhof des BMVI probegefahren. Der zufällig vorbeikommende Minister Dobrinth hatte es allerdings zu eilig für ein Foto und eine Probefahrt. Mit dem Cargobike wäre er jedoch unter Umständen schneller im Bundestag gewesen als mit der Limousine.


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