Im Land der Lastenvelos – Teil I: Fahrradhochburg Basel

Testaktion "Kistenvelos für Familien"In der Schweiz laufen manche Dinge anders. Da sponsert der führende Autoclub des Landes ein Verleihsystem für eCargobikes und die meist „Lastenvelos“ genannten Räder gehen auch als Obst & Gemüse durch. Doch immer der Reihe nach.

Die Mobilitätsakademie in Bern hatte mich eingeladen, bei der zweiten Konferenz ihrer „Schweizer Lastenrad-Initiative Carvelo“ im Oktober einen Vortrag zu halten. Nach Bern fährt man von Berlin aus am bequemsten mit dem Nachtzug über Basel. Und da wollte ich schon länger hin. Denn seit Januar 2015 macht die drittgrößte Stadt der Schweiz mit der Einführung einer autofreien Innenstadt Schlagzeilen. „Basler Velokuriere mit Rückenwind“ titelte die Basler Zeitung Ende März: „Die autofreie Innenstadt beschert der Kurierzentrale ein Umsatzplus von bis zu 40 Prozent. Die Dienste der «Cargo-Bikes» sind heiss begehrt.“

Zu Besuch in der Kurierzentrale

Bullitt und Cargo-Cruiser vor der Kurierzentrale
Lastenvelos im Kuriereinsatz

Vom Bahnhof Basel SBB sind es 10 Minuten zu Fuß zur Kurierzentrale GmbH, wo ich Geschäftsführer Jérôme Thiriet treffe. Der Betrieb ist um 8 Uhr schon voll am Laufen und wir entladen erst einen Transporter mit Overnight-Sendungen des Expresslogistiker „GO!“. Der bringt jeden Morgen seine Sendungen für Basel in der Kurierzentrale zur Feinverteilung.

Die Kurierzentrale ist ein familiärer Ort. Mittags kocht Moni in der Betriebskantine „Chez Ritzel“, im Keller gibt es einen Aufenthaltsraum mit Fahrradwerkstatt, Kicker und jeder Menge Trikots von Einsätzen bei Radkurier-Unternehmen rund um die Welt. Anders als in Deutschland meist üblich sind die Kuriere bei der Kurierzentrale angestellt, müssen sich also nicht als Selbständige um ihre Sozialversicherung kümmern. Bezahlt wird jedoch nach Leistung, d.h. nach zugestellten Sendungen. Eine eigene Dispositionssoftware garantiert den effektiven Einsatz der Kuriere, die über firmeneigene iPhones ihre Aufträge erhalten und abwickeln. Im Schnitt sind 15 Kuriere gleichzeitig auf der Straße. Davon acht normale Fahrräder, zwei Bullitt-Cargobikes, ein großes Citycruiser-Cargobike und (vorwiegend in den Randbezirken) vier Autos.

Und wie steht es jetzt mit dem Umsatzplus von 40% durch die Einführung der autofreien Innenstadt? Ja, das stimmt für die Innenstadt. Aber diese macht nur einen kleinen Teil des Gesamtumsatz aus. Zudem gibt es eine Reihe von Ausnahmegenehmigungen und bis 11 Uhr ist die Innenstadt offiziell frei für Lieferverkehr. Um das gestiegene Auftragsvolumen in der Innenstadt ganztägig ohne Autos bewältigen zu können hat sich die Kurierzentrale allerdings den großen Cargo Cruiser der Rikscha Taxi Schweiz AG angeschafft. Am 1. Juli wurde er als „Citycruiser“ gemeinsam mit dem Gewerbetreibenden-Verein „Pro Innerstadt“ vorgestellt. Dessen Geschäftsführer wird in der Pressemitteilung zitiert: „Solche Innovationen sind wichtig, um die Attraktivität der Basler City als Einkaufserlebnis zu erhöhen.“ Die Kurierzentrale denkt bereits über die Anschaffung eines zweiten großen Lastenvelos nach.

Auf Tour mit dem Cargo-Cruiser

Gegen 9.30 Uhr sitze ich auf einem Der CargoCruiser wird beladenLeihrad und begleite Ròsza Gyamati-Szabo auf ihrer täglichen Tour mit dem Citycruiser in die Innenstadt. Der Cruiser gilt in der Schweiz anders als in Deutschland nicht als Fahrrad. In den vom Schweizer Bundesamt für Straßen vorgegebenen Fahrzeugklassen fällt er in die Kategorie „Rikschaartige Fahrzeuge“ und braucht eine Zulassung vom Kanton sowie eine Versicherung. Außerdem ist die Geschwindigkeit auf offiziell 20 km/h beschränkt. Auf dem Weg in die Innenstadt lenkt Ròsza den Cruiser meist auf markierten Radstreifen am dichten Auto- und Straßenbahnverkehr vorbei, lädt hier ein paar Pakete ab, nimmt da ein paar Pakete auf und grüßt einen Bullitt fahrenden Kollegen der Konkurrenz von der Metropol Kurier GmbH. Im Stadtbild fällt bereits auf, dass auch so einige private Lastenvelos unterwegs sind. Angekommen in der Innenstadt reiht sich ein Lieferfahrzeug ans andere. Für den Citycruiser ist das Durchkommen kein Problem aber von autofreier Innenstadt ist noch nicht viel zu spüren.

Ròsza hat zeitlich ein wenig Luft und bringt mich zum Münsterplatz wo ich im Bau- und Verkehrsdepartement des Kanton Basel-Stadt verabredet bin.

Beim Amt für Mobilität

Vor dem repräsentativen Gebäude gibt es eine stattliche Anzahl von Fahrradparkplätzen und fast alle sind belegt. Autoparkplätze für die Mitarbeiter gibt es nicht, die Zufahrt wäre mit dem privaten PKW dank autofreier Innenstadt eh nicht möglich. Drinnen treffe ich Martin Dolleschel, der im Amt für Mobilität für strategische Fragen und Kommunikation zuständig ist.

Das Baseler Bau- und Verkehrsdepartement
Das Baseler Bau- und Verkehrsdepartement

Basel ist die Schweizer Großstadt mit dem höchsten Radverkehrsanteil. 2010 waren es bereits 16 %. Im selben Jahr wurde per Volksentscheid beschlossen, dass der private motorisierte Verkehr im Kanton Basel-Stadt bis 2020 um mindestens 10% sinken solle. Um das zu erreichen setzt der Kanton auf eine Reihe von „Push“-Maßnahmen wie Ausweitung von Tempo 30-Zonen, die flächendeckende Parkraumbewirtschaftung und ein Verkehrskonzept Innenstadt, zu dem auch die autofreie Innenstadt gehört. Daneben gibt es „Pull“-Maßnahmen für die Förderung nachhaltiger Mobilität, die unter dem Claim „Basel unterwegs“ beworben werden. Darunter fällt auch die Aktion „Kistenvelos für Familien“.

Video von Cargobike-Schnuppertag
Video von Cargobike-Schnuppertag

Zehn E-Cargobikes vom Hersteller Bakfiets.nl konnten 2014 und 2015 in zwei mehrmonatigen Testzeiträumen von Baseler Familien für zwei Wochen kostenlos ausgeliehen werden. Mit einer Postkartenaktion wurde gezielt bei Kinderkrippen, Familienzentren und anderen Anlaufstellen junger Familien geworben. Zusätzlich fanden organisierte Ausflüge und Schnuppertage auf öffentlichen Plätzen statt.

Fast 200 Familien haben ein Cargobike zwei Wochen lang getestet und füllten im Anschluss einen Fragebogen aus. Die meisten waren begeistert und 30% gaben im Jahr 2014 an, sich ein „Lastenvelo“ kaufen zu wollen. Die häufigste Kritik betraf den Kaufpreis von rund 5000 Schweizer Franken für ein Lastenvelo mit E-Antrieb. Unter anderem deswegen ist für nächstes Jahr ein neues Angebot geplant. Das neue Verleihsystem „carvelo2go“ aus Bern (mehr dazu in Teil II dieses Berichts) soll nächstes Jahr mit 10-15 Lastenvelos auch in Basel an den Start gehen.

Was das Cargobike im Wirtschaftsverkehr betrifft hat man im Bau- und Verkehrsdezernat noch keine konkreten Pläne. Gemeinsam mit der Handelskammer wird aber an einem Güterverkehrskonzept gearbeitet, das die Belastungen durch motorisierten Lieferverkehr senken soll. Im Gespräch ist dabei auch die Einrichtung von Sammel- und Verteilzentren. Dadurch könnte der Umschlag auf große Lastenräder auf der „letzten Meile“ in der Innenstadt attraktiv werden. Vielleicht bleibt die Kurierzentrale also auf Dauer nicht das einzige Baseler Unternehmen, das mit einem Cargocruiser in der Innenstadt unterwegs ist.

Durch die autofreie Innenstadt

Blick über den Rhein in BaselAls ich wieder vor dem Bau- und Verkehrsdezernat stehe ist 11 Uhr vorbei und auch der Lieferverkehr darf nicht mehr in die Innenstadt. Die Fahrt auf die andere Rheinseite nach Kleinbasel über die breite „Mittlere Brücke“ ist ein Genuss (hier zum Überblick eine Karte von der autofreien Innenstadt). Neben Bussen und Straßenbahnen gibt es viel Platz für Radfahrer und Fußgänger. Es ist angenehm ruhig und die Luft ist frisch – wenn man sich nicht gerade hinter einem durchstartenden Bus befindet.

So könnte es in Berlin auch aussehen! Auf der Oberbaumbrücke zwischen Kreuzberg und Friedrichshain zum Beispiel. Aber hier wurde der Kampf um eine Brücke ausschließlich für ÖPNV, Rad- und Fußverkehr leider verloren und seit 1995 rauschen vierspurig Autos über die nach wie vor ungenutzten Straßenbahnschienen. Doch das ist eine andere Geschichte.

Lastenvelos bei OBST&GEMÜSE

Ein Butchers & Bicycles Cargobike in der Hofeinfahrt von OBST&GEMÜSEMein nächster Stopp ist das Cargobike-Geschäft OBST&GEMÜSE in der Kasernenstraße, die auch noch zum Gebiet der autofreien Innenstadt gehört. Im Hausdurchgang und Innenhof passiere ich eine ganze Armada von Cargobikes der Marken Butchers & Bicycles- und vor allem Bakfiets.nl. Der Laden selbst befindet sich in einer großzügigen Ladenfläche im Hinterhaus. Ich bin beeindruckt. Einen solch großen und stylischen Cargobike-Showroom hätte ich in Basel nicht erwartet. Basel ist ja mit 175 000 EinwohnerInnen eher eine kleine Großstadt. Außer Butchers & Bicycles und Bakfiets.nl stehen vor allem Bullitts im Showroom. Es gibt außerdem jede Menge Equipment und den putzigen Cargoroller Nimble Scooter. Zusätzlich wird auch das Urban Arrow vertrieben. Mit Michel Röthlisberger und Jacqueline Arm gehe ich raus zur Mittagspause.

Der Name OBST&GEMÜSE geht auf Michels Zeit in Ostberlin vor über 20 Jahren zurück: auf die gleichnamige Bar gegenüber dem Künstlerhaus Tacheles und auf alte Schriftzüge, die es auch auf Mauerwerk in Hinterhöfen zu entdecken gab. Eine solche Hinterhof-Entdeckung sollte auch der 2009 eröffnete Laden sein, der sich relativ bald auf Cargobikes spezialisierte und zum führenden Cargobike-Geschäft in der Schweiz entwickelte. Und dennoch soll der Laden kein reines Fahrradgeschäft sein. So finde im OBST&GEMÜSE zum Beispiel auch literarische Lesungen statt.

Basel ist eindeutig die Hochburg der privaten Cargobike-Nutzung in der Schweiz. Sicherlich wegen des sowieso hohen Radverkehrsanteils, aber auch, weil es mit OBST&GEMÜSE einfach ein attraktives Cargobike-Angebot vor Ort gibt. Lastenvelos sind im Stadtbild von Basel präsent. Hier ein parkender Urban Arrow. Dank hoher Kaufkraft am Pharma- und Chemiestandort Basel gibt es außerdem genug Kunden, die problemlos 5000 Franken für ein E-Cargobike hinlegen. Andere fahren lieber ins benachbarte Deutschland, um günstigere Modelle in Euro zu kaufen.

Ohne OBST&GEMÜSE gäbe es auch das „Kistenvelos für Familien“-Projekt nicht. Der Laden stellt die Räder und kümmert sich um Ausgabe und Rücknahme. Jenseits der vom Kanton finanzierten kostenlosen Testzeiträume kommen die Räder in den eigenen Verleih – für 50 Franken pro Tag. An den Überlegungen für die Einführung des Verleihsystems „carvelo2go“ in Basel ist OBST&GEMÜSE auch beteiligt. Die Baseler Cargobike-Welt ist dann eben doch klein und die relevantesten Akteure und Orte habe ich bereits an einem Vormittag kennengelernt. Doch Basel ist ein schönes Beispiel dafür, wie wenige Leute mit den richtigen Ideen und Mitteln bei einer progressiven städtischen Verkehrspolitik eine gute Verbreitung und Sichtbarkeit von Cargobikes erreichen können.

Mein Rückweg führt über das herrliche autofreie Autofreies Rheinufer auf der Kleinbaseler SeiteKleinbaseler Rheinufer bis ich die autofreie Innenstadt verlasse und auf der Wettsteinbrücke wieder in Autochaos und Abgaswolke lande. Zurück in der Kurierzentrale habe ich noch ein Gespräch mit Michel Bannier. Er ist für Kommunikation und Verkauf zuständig und arbeitet an einer neuen Außendarstellung. Fahrräder und Lastenvelos werden dabei stärker in den Hintergrund rücken. Nicht weil sie zukünftig weniger genutzt werden sollen. Im Gegenteil. Aber es soll stärker rüberkommen, dass bei der Kurierzentrale auch nationale und internationale Sendungen aufgegeben werden können. Und das verstehen viele potentielle Kunden (noch?) nicht, wenn in der Außendarstellung der Firma Fahrräder und Cargobikes dominieren.

Weiter geht’s zum Bahnhof und von dort nach Bern zu den Kolleginnen und Kollegen vom Projekt „Carvelo“. Dazu mehr hier in Teil II dieser Reportage.


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